Die
37 Übungen der Bodhisattvas
Traditioneller Text von Gyalse Thogme Zangpo
Vor ihm, der alleine zum Wohl der Wesen unablässig
arbeitet,
obgleich er sieht, daß alle Erscheinungen weder Kommen noch
Gehen besitzen,
vor dem unübertrefflichen Guru und Beschützer Chenresig
verbeuge ich mich in Hingabe und tiefem Respekt
mit Körper, Rede und Geist.
Die Quelle allen Wohlergehens und aller Freude,
die vollkommenen Buddhas, sind hervorgegangen aus der Verwirklichung
der Edlen Lehre.
Und da diese auf Kenntnis der Übung im Dharma beruht, will
ich die Übungen der Bodhisattvas hier erklären:
1.
Nun, da ihr den kostbaren Menschenkörper, das Floß, das
so schwer zu finden ist, erlangt habt,
um euch selbst und die anderen über den Ozean von Samsara zu
setzen,
bemüht euch unablässig - Tag und Nacht - im Hören,
Nachdenken und Meditieren.
Dies ist die Übung der Bodhisattvas.
2.
Zuneigung und Anhaftung gegenüber Freunden entstehen spontan
und ohne Anstrengung,
so wie Wasser den Berg hinabfließt.
Abneigung und Haß gegenüber Feinden lodern wie Feuer.
Von der Finsternis der Unwissenheit umhüllt, vergesst ihr,
was anzunehmen und was zu verwerfen ist.
Das Heimatland aufzugeben ist die Praxis der Bodhisattvas.
3.
Gebt ihr schlechte Plätze auf, nehmen die störenden Gefühle
nach und nach ab.
Gänzlich frei von Ablenkung vermehrt sich Heilsames spontan.
Durch geistige Klarheit entsteht Vertrauen in den Dharma.
Sich auf Einsamkeit zu verlassen ist die Praxis der Bodhisattvas.
4.
Bedenkt: von geliebten Freunden, mit denen ihr lange euer Leben
geteilt habt, werdet ihr getrennt.
Reichtum und Besitztümer, unter Mühen erworben, werden
zurückbleiben.
Das Bewußtsein verläßt den Körper, in dem
es zu Gast war.
Das Anhaften an dieses Leben aufzugeben ist die Übung der Bodhisattvas.
5.
Durch schlechte Gesellschaft vermehren sich die drei Gifte und Hören,
Nachdenken und Meditation werden verfallen.
Liebe und Mitgefühl werden zugrunde gerichtet.
Schlechte Gesellschaft zu meiden ist die Übung der Bodhisattvas.
6.
Wenn man sich dem spirituellen Freund anvertraut, schwinden die
Übel,
und gute Eigenschaften wachsen wie der zunehmende Mond.
Den wahren spirituellen Freund mehr zu schätzen als selbst
den eigenen Körper ist die Übung der Bodhisattvas.
7.
Wie können weltliche Götter, die selbst in den Gefängnismauern
von Samsara gebunden sind, euchretten?
Sich in den Schutz der drei Juwelen, die nicht trügen, zu begeben,
ist die Übung der Bodhisattvas.
8.
Der Erhabene lehrte, daß die Leiden der niederen Bereiche
schier unerträglich und die Frucht übler Handlungen sind.
Niemals übele Taten zu begehen, selbst wenn es das eigene Leben
kostet, ist die Übung der Bodhisattvas.
9.
Das Glück der Drei Welten gleicht dem Tautropfen auf der Spitze
eines Grashalms.
Ein flüchtiger Augenblick nur, und es ist vergangen.
Nach der höchsten Stufe der Befreiung zu streben, die unvergänglich
ist, ist die Übung der Bodhisattvas.
10.
Wenn eure Mütter leiden, die seit anfangloser Zeit so gütig
zu euch waren, was ist dann mit dem eigenen Glück erreicht?
Deshalb, um unzählige Wesen von Leiden zu befreien, den Bodhicitageist
zu erzeugen, ist die Übung der Bodhisattvas.
11.
Alles Leid - ohne Ausnahme - entspringt dem Wunsch nach eigenem
Glück.
Aus der Geisteshaltung, die auf das Wohl der anderen ausgerichtet
ist, entsteht vollkommene Buddhaschaft.
Eigenes Glück vollkommen einzutauschen gegen das Leid der Anderen
ist die Übung der Bodhisattvas.
12.
Jenen, die aus großer Gier euch aller Habe berauben oder andere
zum Stehlen veranlassen,
euren Körper, euren Besitz und die Tugenden der drei Zeiten
zu schenken ist die Übung der Bodhisattvas.
13.
Auch wenn man euch den Kopf abschlägt, obwohl ihr schuldlos
seid,
durch die Macht des Mitgefühls alle Sünden auf euch zu
nehmen ist die Übung der Bodhisattvas.
14.
Und wenn euch jemand auf alle Arten herabsetzt und verleumdet, daß
es durch dreitausend Welten schallt,
mit dem Herz voller Liebe als Antwort seine positiven Qualitäten
hervorzuheben ist die Übung der Bodhisattvas.
15.
Sollte euch jemand vor allen Leuten bloßstellen, eure Fehler
breittreten und schlecht über euch reden,
dieses Wesen als spirituellen Freund zu betrachten und sich vor
ihm zu verneigen ist die Übung der Bodhisattvas.
16.
Wenn jemand, den ihr wie euer eigenes Kind umsorgt und behütet
habt, euch dennoch wie einen Feind behandelt, ihmbesondere Zuwendung
zu schenken, wie eine Mutter ihrem erkrankten Kind, ist die Übung
der Bodhisattvas.
17.
Wenn jemand, von gleichem oder niedrigerem Stand, von Stolz getrieben
euch herabsetzen will,
ihm Respekt zu erweisen wie dem eigenen Guru ist die Übung
der Bodhisattvas.
18.
Und wenn ihr noch so arm, von Menschen stets verachtet seid, von
schwerer Krankheit befallen,
dennoch die Leiden aller Wesen auf euch zu nehmen ist die Übung
der Bodhisattvas.
19.
Auch wenn ihr sehr berühmt seid, viele euch verehren und ihr
so viele Schätze erworben habt wie der Gott des Reichtums,
zu bedenken, dass alle Reichtümer dieser Welt ohne Essenz sind
und daher nicht arrogant zu sein ist die Übung der Bodhisattvas
20.
Solange ihr euren inneren Feind, den Haß, nicht überwunden
habt,
werden eure äußeren Feinde - auch wenn ihr sie besiegt
- sich immer wieder erheben.
Den eigenen Geist daher mit der ganzen Macht von Liebe und Mitgefühl
zu zähmen ist die Übung der Bodhisattvas.
21.
Die Gegenstände des Verlangens gleichen salzigem Wasser:
je mehr ihr davon trinkt, um so stärker wird euer Verlangen
danach.
Was auch immer Bindung erzeugt aufzugeben ist die Übung der
Bodhisattvas.
22.
Was immer euch erscheint, ist euer eigener Geist.
Der Geist selbst ist von jeher frei von begrifflichen Abgrenzungen.
Dies zu erkennen und den Geist freizuhalten von dualistischem Denken
ist die Übung der Bodhisattvas.
23.
Wenn euch etwas gefällt, betrachtet es wie den Regenbogen zur
Sommerzeit: schön und dennoch unwirklich.
Daher Verlangen und Anhaften aufzugeben ist die Übung der Bodhisatttvas.
24.
Die verschiedenen Leiden gleichen dem Sterben eines Sohnes im Traum.
Ihr habt euch durch Verstrickung in die täuschenden
Erscheinungen, die ihr für Wirklichkeit hieltet, erschöpft.
Widrige Umstände daher als Illusionen zu betrachten ist die
Übung der Bodhisattvas.
25.
Wenn jemand, der Erleuchtung wünscht, sogar den eigenen Körper
aufgeben muß,
gibt es noch einen Grund, äußere Objekte zu erwähnen?
Freigiebig ohne Hoffnung auf Lohn oder karmische Frucht zu sein
ist die Übung der Bodhisattvas.
26.
Wenn ihr aufgrund des Fehlens von Disziplin nicht einmal euer eigenes
Wohl bewirken könnt, ist der Wunsch,
das Wohl anderer zu erwirken, zum Lachen.
Daher, Disziplin zu bewahren die frei von weltlichem Streben ist
ist die Übung der Bodhisattvas.
27.
Für einen Bodhisattva, der den Reichtum guter Handlungen anzusammeln
wünscht,
gleichen alle die ihm schaden einem kostbaren Schatz.
Daher zu frei von Abneigung und Haß Geduld zu üben ist
die Übung der Bodhisattvas.
28.
Wenn ihr seht, daß selbst die Shravakas und Pratyekabuddhas,
die nur nach ihrem eigenen Wohl streben,
sich anstrengen, als gelte es, ein Feuer auf ihrem Haupt zu löschen,
werdet ihr die Anstrengung zum Wohle der Anderen - die Quelle aller
guten Eigenschaften - hervorbringen.
Dies ist die Übung der Bodhisattvas.
29.
Wenn ihr gelernt habe durch Vipashyana (lag-thong), fest gegründet
auf Shamatha (shi-nä), die Geistesgifte zu bezwingen, euch
in meditativer Sammlung zu üben, die jenseits der „vier
formlosen Stufen“ ist ist die Übung der Bodhisattvas.
30.
Da ohne unterscheidende Weisheit (sherab) - durch die fünf
Paramitas allein -
vollkommene Erleuchtung nicht erlangt werden kann,
über jene Weisheit zu meditieren, die die wirksamen Methoden
beinhaltet
und die drei Aspekte (kor-sum) nicht erdenkt ist die Übung
der Bodhisattvas.
31.
Wenn ihr euch nicht die eigene Verwirrung vor Augen führt,
lauft ihr Gefahr, den Dharma nur äußerlich zu praktizieren.
Deshalb ständig die eigenen Fehler zu beleuchten und dann aufzugeben
ist die Übung der Bodhisattvas.
32.
Wenn ihr unter dem mächtigen Einfluß der Geistesgifte
über die Fehler anderer Bodhisattvas sprecht,
schädigt ihr euch und anderen.
Nicht schlecht über jene zu sprechen, die den Mahayanapfad
betreten haben, ist die Übung der Bodhisattvas.
33.
Um des Gewinns und der Achtung willen streitet man untereinander
und die Übung von Hören,
Nachdenken und Meditieren wird vernachlässigt.
Die Bindung an Haus, Wohltäter, Freunde und Verwandte aufzugeben
ist die Übung der Bodhisattvas.
34.
Durch harte Worte verletzt ihr die Gefühle anderer und das
Bodhisattva-Verhalten verfällt.
Verletzende und unangenehme Worte aufzugeben ist die Übung
der Bodhisattvas.
35.
Wenn ihr euch erst an die Geistesgifte gewöhnt habt, fällt
es schwer, sie durch Gegenmittel zu bezwingen.
Deshalb mit Achtsamkeit und Gewahrsein das Schwert der Gegengifte
zu erheben und die Geistesgifte,
im Moment ihres Auftauchens, zu bezwingen ist die Übung der
Bodhisattvas.
36.
Kurzum, wo immer ihr auch seid, was immer ihr tut, euch zu fragen,
wie der Zustand eures Geistes ist,
ständig achtsam und bewusst zu sein und zum Wohle der Anderen
zu arbeiten ist die Übung der Bodhisattvas.
37.
Die Tugenden, die ihr auf diese Weise durch euer Streben erworben
habt, mit jener Weisheit,
die makellos die drei Aspekte begreift, der Erleuchtung zu widmen,
um unzählige Wesen vom Leiden zu befreien, ist die Übung
der Bodhisattvas.
Gestützt auf die Lehren von Sutra, Tantra
und deren Kommentare, und den Unterweisungen der Heiligen folgend,
habe ich die siebenunddreißig Übungen der Bodhisattvas
zum Nutzen jener niedergeschrieben, die den Bodhisattva-Weg beschreiten
möchten.
Da mein Verstand gering ist und ich wenig geübt bin, gibt es
hier keine Verse, die Gelehrte erfreuen. Doch da sie sich auf die
Sutras und die Erklärungen der Heiligen stützen, halte
ich diese Übungen der Bodhisattvas für fehlerlos.
Aber da es mit meinem geringen Verstand schwierig ist, die Tiefen
der kraftvollen Bodhisattva-Taten zu ermessen, bitte ich die Heiligen
um Nachsicht für Widersprüche, Ungereimtheiten und andere
Fehler.
Mögen alle Wesen durch die Tugend, die hieraus erwächst,
dem Beschützer Chenresig gleich werden, der im Besitz von höchstem
- relativen und absoluten - Bodhicitta weder im Extrem von Samsara
noch Nirvana verweilt.
Dies wurde zu meinem eigenen Nutzen und dem Wohl der Anderen vom
textkundigen Logiker, dem Mönch Thogme, in der kostbaren Quecksilberhöhle
verfaßt.
OM MANI PADME HUNG
Letzter
Änderung:
February 6, 2011
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